Am 11. Juli fand in Stuttgart eine Gesprächsrunde mit dem früheren deutschen Botschafter in Polen, Rolf Nikel, statt. Auf der Grundlage seines Buchs „Feinde Fremde Freunde – Polen und die Deutschen“ referierte der ehemalige Diplomat über die aktuellen Problemfelder in den deutsch-polnischen Beziehungen – und gab Handlungsempfehlungen für die Zukunft.
Während draußen die Abendsonne erbarmungslos brannte und die Stuttgarter Innenstadt auf fast 40 Grad Celsius aufheizte, wurde drinnen, im Haus der Gemeinde St. Elisabeth, über die unterkühlten deutsch-polnischen Beziehungen diskutiert. Auf Einladung des Politischen Bildungsforums Baden-Württemberg der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), des Regionalforums Baden-Württemberg der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sowie des Landesverbands Baden-Württemberg der Deutsch-Polnischen Gesellschaft (DPG) war Rolf Nikel, von 2014 bis 2020 Deutscher Botschafter in Warschau und aktuell unter anderem Vizepräsident der DGAP, in die baden-württembergische Landeshauptstadt gekommen. Auf der Grundlage seiner langjährigen Erfahrungen als Mitgestalter der deutschen Politik gegenüber Polen und seines in diesem Jahr veröffentlichten Sachbuchs „Feinde Fremde Freunde“ sprach der frühere Topdiplomat über die derzeit schwierige Lage der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Michel Salzer, Referent beim Politischen Bildungsforum Baden-Württemberg der KAS, und Karoline Gil vom DGAP-Regionalforum Baden-Württemberg, die hauptberuflich den Bereich Integration und Medien beim in Stuttgart beheimateten Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) leitet.
Beziehungen besser als ihr Ruf
Gleich zu Beginn des Austauschs machte Rolf Nikel deutlich, dass die deutsch-polnischen Beziehungen aus seiner Sicht viel besser seien als ihr Ruf. Warum? „Weil wir eine solide Basis in den zwischengesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander haben. Und weil wir einen außerordentlich breiten und sehr intensiven und dynamischen Wirtschaftsaustausch haben. Deutschland ist natürlich der erste Handelspartner Polens. Was aber viele Menschen in Deutschland nicht wissen: Polen ist mittlerweile der viertgrößte Handelspartner Deutschlands“, betonte Nikel.
Insofern sei die Basis der bilateralen Beziehungen – also auf der zivilgesellschaftlichen Ebene und im wirtschaftlichen Bereich – „außerordentlich positiv“, so der ehemalige Botschafter, der auf eine über 40-jährige Karriere im Auswärtigen Amt zurückblicken kann.
Drei Problembereiche – und drei deutsche Fehler
Rolf Nikel machte aber keinen Hehl daraus, dass es in den Beziehungen natürlich auch zahlreiche Problemfelder gebe. So hapere es aktuell im Wesentlichen in drei (politischen) Bereichen: zum einen hinsichtlich des Verhältnisses Polens zu den Institutionen der Europäischen Union (Stichwort: Rechtsstaatlichkeit).
Das zweite Problem betreffe die Geschichte. „Hier geht es vor allem um die Zeit von 1939 bis 1945 und die Konsequenzen, die die derzeitige polnische Regierung aus dieser Situation ableitet, also die Frage der Reparationen, die jetzt gestellt wird“, erklärte Nikel.
Der dritte – und womöglich schwierigste – Bereich beziehe sich auf die Zukunft der europäischen Ostpolitik. „Die Vorstellungen, die Polen und Deutschland von einer vernünftigen und erfolgreichen Ostpolitik haben, gehen sehr stark auseinander“, so Nikel.
Hinzu komme, dass Deutschland spätestens ab dem Ende des Kalten Krieges eine Russland-Politik betrieben habe, die gescheitert sei. „Ich schreibe in meinem Buch, dass die deutsche Russland-Politik das größte Versagen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 ist“, unterstrich der Botschafter a. D. So hätten die vergangenen Bundesregierungen Deutschland und Teile Europas erstens in eine verhängnisvolle Energieabhängigkeit von Russland geführt. Der zweite Fehler sei die „irrige Vorstellung“ gewesen, dass man „mit einer für beide Seiten vorteilhaften wirtschaftlichen Entwicklung positiv auf die innere, zunehmend autoritäre Entwicklung in Russland einwirken“ könne. Drittens habe man auf das Geschehen östlich der Grenzen von EU und NATO immer durch das Prisma Moskaus geblickt – „und nie durch das Prisma zum Beispiel von Kiew“, kritisierte Nikel.
Diese begangenen ostpolitischen Fehler hätten zu einem „immensen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust deutscher Außenpolitik“ geführt, resümierte der Referent. Es sei der Eindruck entstanden, dass sich Deutschland nur dann bewege, wenn es von außen ausreichend unter Druck gesetzt wird. Trotz der von der Bundesregierung angekündigten „Zeitenwende“ sei dieser Vertrauensverlust bislang nicht wirklich aufgearbeitet worden.
Antideutsche Kampagne in Polen
Nikel vertrat aber auch die Meinung, dass sich Deutschland im Rahmen ebenjener „Zeitenwende“-Politik „immens“ auf Polen zubewegt habe. „Und eigentlich wäre jetzt der Moment für eine wirklich gemeinsame Politik auf Augenhöhe. Aber was macht die polnische Regierung? Sie ‚vergeigt‘ die Angelegenheit“, sagte er etwas salopp. „Denn jetzt, wo die größtmögliche Kohäsion im Westen erforderlich wäre, fängt die polnische Regierung an, diese Forderungen nach Reparationen beziehungsweise Entschädigungen zu erheben. Dem einzigen, dem das dient, ist Wladimir Putin. Sie (die Polen, Anm. d. Red.) nutzen jetzt nicht diese Gelegenheit, den – wenn Sie so wollen – polnischen Moment in der europäischen Ostpolitik“, fuhr er fort. Im Moment gebe es in Polen – auch bedingt durch den Wahlkampf – vielmehr eine antideutsche Kampagne, die in ihren Ausmaßen an die Zeit der Volksrepublik erinnere.
Auf die Frage von Karoline Gil, warum der Rückgriff auf die Geschichte in Polen immer noch „ziehe“, sagte der Experte: „Es gibt aufgrund der schwierigen Geschichte eine Menge Stereotypen, die in der polnischen Gesellschaft einfach abrufbar sind.“ So versuche Jarosław Kaczyński die Vorstellung zu formen, dass die Gefahr aus Deutschland fast genau so groß sei wie jene aus Russland – was historisch gesehen eine „gewisse Grundlage“ habe, aber heute nicht mehr wahr sei. „Wir stehen auf derselben Seite der Geschichte“, hob Nikel hervor.
Handlungsempfehlungen für die zukünftige Zusammenarbeit
Mit Blick auf die weitere Zukunft der deutsch-polnischen Zusammenarbeit sagte er zum Ende der Veranstaltung: „Ich glaube, der Schlüssel für gute Beziehungen zu Polen liegt darin, dass wir uns als echte Freunde und Alliierte in der EU und NATO präsentieren. Das heißt, dass wir die Unterstützung der Ukraine und die Unterstützung der Ostflanke der Europäischen Union fundamental vorantreiben müssen.“ Deutschland müsse mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben bereitstellen und seinen Beitrag zur Stärkung der NATO-Ostflanke leisten.
Weiter brachte Nikel eine offizielle Untersuchung der vergangenen deutschen Russland-Politik ins Spiel: „Wenn es richtig ist, dass Deutschland grobe Fehler in seiner Ostpolitik begangen hat, müssen wir diese Dinge aufarbeiten. Deshalb plädiere ich in meinem Buch für die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu diesem Thema“, sagte er.
Darüber hinaus müsse man die Mechanismen, die es in Europa gebe, vorantreiben. „Dazu gehört die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks. Deutschland, Polen und Frankreich können zusammen einen wichtigen Beitrag leisten, eine geostrategischere Europäische Union voranzutreiben“, so Nikel. Dieses Potenzial müsse genutzt werden.
Zum Schluss seiner Ausführungen appellierte Rolf Nikel: „Wir müssen mit Polen im Dialog bleiben – auch wenn es schwierig ist.“
Lucas Netter
Feinde Fremde Freunde – Polen und die Deutschen
Autor: Rolf Nikel
Herausgeber: Langen Müller Verlag GmbH, München
Erscheinungsdatum: 20. Januar 2023
Sprache: Deutsch
Format: 13,5 x 21,5 cm, Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7844-3666-1
Preis: 24 Euro